aus: Kunsttherapie in Gruppen – Vernetzung – Resonanzen – Strategeme

Der durchgestrichene Tisch

 

Auf der Irritationsskizze dieses 36-jährigen Mannes ist ein durchgestrichener Tisch zu sehen.
Der Maler war enttäuscht darüber, dass ein Arbeitstisch, den er sich ausgesucht hatte, von einem anderen Gruppenteilnehmer besetzt war.

Gab es so eine ähnliche Szene schon einmal in deinem Leben?
Der Maler erinnert sich an die Schulzeit. Er und sein Stiefbruder waren für einen Aufenthalt in Frankreich vorgesehen. Da die anderen Schüler alle kleiner und jünger waren und nur noch ein Platz zur Verfügung stand, bekam der Stiefbruder den Platz, und er musste zu Hause bleiben ... Er wurde sozusagen von der Liste gestrichen.

Der noch tiefere Verlust
„Stiefbruder ...?“ frage ich
„Ja, ich hatte einen Stiefbruder. Meine Eltern sind beide tödlich verunglückt, als ich sieben war ...“ Durch das kurze Nachfragen bekommt der durchgestrichene Tisch noch eine zusätzliche (Be-) Deutung: Mit dem Verlust der Eltern war das Familienleben gleichsam für immer durchgestrichen.
Einen Familientisch hat es nie mehr gegeben.

COEX-Systeme
Die Kunsttherapeutin liest die Irritationsskizzc also nicht nur als Illustration eines aktuellen Vorfalls, sondern als dynamische Einheit – condensed experience (COEX-System, Grof) –, die auf etwas Analoges in der Biographie hinweisen könnte. Es spielt letztlich keine so große Rolle, welcher Tisch wo stand und von wem er weggenommen wurde. Der aktuelle Bezug ist schnell geklärt und kann zu sorgsameren Umgang der Teilnehmer untereinander führen. Der besondere Wert der Irritations-Skizze liegt in dem unmittelbaren Bezug zu „früher“, in dem Erkennen von Zusammenhängen und in der Chance zu immer mehr Bewusstheit.

Der (zu) direkte Weg zum Trauma
Sehr häufig führt die Irritationsskizze also unmittelbar zu einem Trauma und muss deshalb entsprechend sorgfältig behandelt werden. Dies gilt vor allem für die häufig auftretenden Irritationen, wo jemand seinen Stuhl oder Schemel plötzlich von einem anderen Teilnehmer besetzt vorfindet. Manche verstehen nicht, wieso man sich über eine solche Kleinigkeit so aufregen kann. In Wirklichkeit ist der „lächerliche“ Zwischenfall die Wiederbelebung eines Ur-Traumas: Keinen Platz (in der Familie, im Leben) zu haben.